Papst Franziskus hat vergangenes Jahr die inhaltliche Ausrichtung des Jesuitenordens offiziell bestätigt und bekräftigt. Zum ersten Mal in der Geschichte des Ordens haben alle Mitglieder weltweit mitdiskutiert, was die Gesellschaft Jesu in den nächsten zehn Jahren für die Kirche und die Gesellschaft bewirken will. Was genau dies bedeutet und welche Inhalte dies sind, stellen wir ihnen hier im Laufe des Jahres Präferenz für Präferenz vor. Es soll gezeigt werden, was im Allgemeinen die Präferenzen heißen und wie sie mit Leben gefüllt werden. Die zweite Präferenz heißt: An der Seite der Benachteiligten. Was dies für einen Jesuiten bedeutet, erklärt Markus Inama SJ.
„An der Seite der Benachteiligten: Gemeinsam mit den Armen, den Verworfenen der Welt, den in ihrer Würde Verletzten auf dem Weg sein, gesandt zu Versöhnung und Gerechtigkeit“
Der Leiter des Jesuitischen Flüchtlingsdienstes in Australien erwähnte bei einem Vortrag einen Satz, mit dem er Schüler*innen zu überzeugen versuchte, Menschen auf der Flucht eine faire Chance zu geben: „Where you sit is where you stand“. Unser Standpunkt und unsere Meinung sind oft sehr eng mit dem Umfeld verknüpft, in dem wir leben. Deshalb ist es gut, hin und wieder den Standort zu verändern und ganz andere Perspektiven einzunehmen. Die wichtigste Aufgabe dabei ist nicht, mit Projekten zu beginnen, unsere primäre Aufgabe ist, die Perspektive zu ändern und „die Fragen, die Sehnsucht und die ganz fundamentalen menschlichen Bedürfnisse der Flüchtlinge zu hören.“ (Mark Raper SJ)
Ein fixer Bestandteil der jesuitischen Ausbildung sind deshalb verschiedene Praktika, während denen wir für einige Monate oder auch Jahre an der Seite von notleidenden Menschen leben. Diese Praxis geht auf die ersten Jesuiten zurück. Sie besuchten Gefangene und pflegten Kranke.
Ich persönlich habe die Jesuiten in einem Heim für obdachlose Menschen in Wien kennengelernt. Dabei wurde mein Horizont nicht nur was die Lebenssituationen von obdachlosen Menschen betrifft verändert. Mir wurde auch das Bild, was Ordensleben bedeutet, auf eine völlig neue Weise nahegebracht: Ordensleben bedeutet, mich an den Brennpunkten des gesellschaftlichen Lebens aus der Kraft des Glaubens für andere einzusetzen.
Im Jahr 1965, als das zweite Vatikanische Konzil noch im Gange war, wurde Pedro Arrupe zum neuen Generaloberen der Jesuiten gewählt. Unter seiner Führung wurde in den Jahren 1974/75 das Leitbild der Jesuiten neu formuliert: „Dienst am Glauben und Einsatz für die Gerechtigkeit“. Es blieb nicht nur bei Formulierungen. Als in den späten 70-er Jahren 1,6 Millionen Menschen mit Booten aus dem Vietnam flüchteten, gründete Pedro Arrupe den Jesuitenflüchtlingsdienst (Jesuit Refugee Service, kurz JRS), der inzwischen in über 80 Ländern präsent ist. Eine andere Gründung, die ebenfalls in diese Zeit zurückreicht, ist die Freiwilligenorganisation Jesuit Volunteers, die seit Mitte der 80er Jahre vorwiegend für junge Menschen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz Sozialeinsätze an unterschiedlichsten sozialen Brennpunkten der Welt koordiniert. Das neue Leitbild des Ordens hatte auch auf andere Aufgabenfelder des Ordens Auswirkungen. Jesuitenschulen setzen sich seit damals zum Ziel „Menschen für andere“ auszubilden.
Im Konzert der vielen NGOs, die im sozialen Bereich tätig sind, zeichnen sich jesuitische Initiativen dadurch aus, dass versucht wird, den praktischen Einsatz sozialwissenschaftlich und theologisch zu reflektieren und Verbindungen zu anderen Aufgabenfeldern des Ordens herzustellen. Ein Beispiel dafür ist das Projekt „Jesuit Worldwide Learning“ (kurz JWL), das in den letzten Jahren entstanden ist und welches Menschen in Flüchtlingslagern einen Studienabschluss ermöglicht. JWL kooperiert dabei vor allem auch mit ordenseigenen Hochschulen.
Bei einem Gespräch mit unserem ehemaligen Generaloberen Adolfo Nicolas anlässlich eines Jubiläums meldete sich ein älterer Mitbruder zu Wort und meinte, dass bei einer solchen Feier naturgemäß die Erfolge und die erfreulichen Dinge im Mittelpunkt stünden, ihn aber doch interessieren würde, wo Pater Nicolas die Defizite der Jesuiten sehe. Pater Nicolas antwortete: „Wir Jesuiten tun uns mit dem Engagement für arme Menschen schwer, weil wir gewohnt sind, Erfolge zu feiern. Wenn wir uns für wirklich arme Menschen engagieren, dann gibt es keine großen Erfolge. Da gilt es eher, Niederlagen einzustecken.“ Und dann sagte er den etwas provokanten Satz: „Wir müssen lernen, Niederlagen zu feiern.“ So gesehen ist die 2. Präferenz wichtig, weil sie uns immer wieder mit einer Realität konfrontiert, die unangenehm ist.
Pater Inama wurde 1962 in Vorarlberg geboren. Er war als Leiter eines Obdachlosenheims in Wien tätig. 1987 trat er in den Jesuitenorden ein. Von 1995 bis 2008 arbeitete er im Bereich der offenen Jugendarbeit in Wien und Innsbruck. Danach übersiedelte er nach Bulgarien und engagierte sich in Sofia im Rahmen der CONCORDIA-Sozialprojekte für Kinder und Jugendliche, die auf der Straße und in Armenvierteln lebten. Seit 2009 ist er Mitglied des Vorstands von CONCORDIA-Sozialprojekte. Von 2012 bis 2018 war er Rektor des Jesuitenkollegs in Innsbruck und seither ist er Superior der Jesuiten in Wien.