"Ich habe immer Theologie betrieben um der Verkündigung, um der Predigt, um der Seelsorge willen" - das heißt mit anderen Worten: um des Glaubens willen. Und weiter: "Ich bin kein Wissenschaftler und will auch keiner sein, sondern ich möchte ein Christ sein, dem das Christentum ernst ist, der unbefangen in der heutigen Zeit lebt und von da aus sich dann dieses oder jenes und ein drittes und ein zwanzigsten Problem geben läßt, über das er dann nachdenkt; wenn man das dann ,Theologie' nennen will, ist das ja gut." So spricht einer der bekanntesten Theologen des 20. Jahrhunderts, ein bedeutsamer Konzilstheologe und Berater von Bischöfen und Synoden, ein Mann des offenen Wortes in der Kirche: P. Karl Rahner SJ.
Am 30. März 1984 ist Karl Rahner in Innsbruck gestorben. Die großen Würdigungen waren erst wenige Wochen zuvor, zu seinem 80. Geburtstag am 5. März, erfolgt. Es waren ehrfurchtsvolle Verneigungen vor einem unglaublich fruchtbaren theologischen Lebenswerk. Zum 10. Todestag schrieb Karl Lehmann als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz: "Wenn große Menschen von uns gehen, entsteht nach ihrem Heimgang zunächst eine eigentümliche Erfahrung der Leere. Es ist nicht nur die Erkenntnis, daß einer fehlt, der für viele ein Meister des Denkens und ein ungewöhnlicher Seelsorger war. Das Ausbleiben seiner Wegweisungen und Zwischenrufe, die für ein halbes Jahrhundert nicht wegzudenken waren, hat eine Lücke hinterlassen, die nicht geschlossen werden kann. In diesem Sinne ist Karl Rahner einmalig und unersetzlich." Diese Einschätzung ist glaubwürdig. Inzwischen Kardinal, muss es Karl Lehmann schließlich wissen: Von 1964 bis 1967 war er als Assistent Karl Rahners in München einer der engsten Mitarbeiter des Jesuitentheologen.
Als ausgesprochen "antibiographischer Typ" (Johann Baptist Metz) hat Karl Rahner nicht gern und nur sehr selten von sich selber gesprochen. Erst in späten Lebensjahren hat er sich in Interviews einiges aus seiner Lebensgeschichte entlocken lassen. Seine verhaltene Art kommt in einem für einen Bildband erbetenen Selbstportrait von 1966 gut zum Ausdruck: "In aller Reflexion und in aller Planung ist jeder der Geführte, der sich nie einholt. Und wenn ich so sage: Ich bin am 5. März 1904 in Freiburg geboren, war Sohn eines Gymnasialprofessors, wuchs in einem überzeugten, christlichen, katholischen (ohne Enge) Elternhaus auf, dem eine tapfere Mutter mit sieben Kindern das Gepräge gab, empfing die übliche Schulausbildung bis zum Abitur 1922 mit gutem, aber durchaus normalem Erfolg - was weiß ich dann eigentlich selbst von meinen ,Anfängen'? Wenig. Und das Wenige schwindet immer mehr in eine schweigende Vergangenheit hinein, verstellt von der Mühe des Alltags. 1922 trat ich in den Jesuitenorden ein. Nach 44 Jahren weiß man von diesem Anfang auch nur mehr, daß er gut war, daß er mir blieb und ich ihm treu sein durfte."
Von der Jugendbewegung "Quickborn" geprägt, trat Karl Rahner am 20. April 1922 in den Jesuitenorden ein: im Vorarlbergischen Tisis bei Feldkirch, das damals zur Oberdeutschen Provinz des Ordens gehörte. Zehn Jahre später wurde er nach der ordensüblichen Ausbildung (in Tisis, Pullach bei München, Feldkirch und Valkenburg/Niederlande) am 26. Juli 1932 in München von Kardinal Michael Faulhaber zum Priester geweiht. Es folgte ein weiteres Jahr der Theologie. Dann absolvierte Karl Rahner in St. Andrä im Lavanttal das sogenannte Tertiat zur Vorbereitung auf die endgültige Bindung an den Orden durch die Letzten Gelübde.
Ursprünglich zum Professor für Philosophiegeschichte an der ordenseigenen Hochschule in Pullach bestimmt, studierte er von 1934 bis 1936 zusammen mit Johannes B. Lotz SJ in seiner Heimatstadt Freiburg Philosophie, u. a. bei Martin Heidegger. Aus dem philosophischen Doktorat wurde aber nichts. Karl Rahner ging auf die Überarbeitungswünsche seines Doktorvaters Martin Honecker nicht ein und veröffentliche seine Untersuchung "Zur endlichen Erkenntnis der Metaphysik bei Thomas von Aquin" 1939 unter dem Titel "Geist in Welt". Inzwischen war er nach Innsbruck übersiedelt, wo sein älterer Bruder Hugo - vier Jahre vor Karl Jesuit geworden - Professor für Kirchengeschichte war. Kurz vor Weihnachten 1936 wurde Karl Rahner dort zum Doktor der Theologie promoviert. Ein halbes Jahr später erfolgte die Habilitation. Bevor er im Wintersemester 1937/38 als Privatdozent für Dogmatik und Dogmengeschichte mit seinen Vorlesungen begann, legte er im August 1937 bei den Salzburger Hochschulwochen seine Überlegungen über das Verhältnis von Theologie und Philosophie vor, die 1941 unter dem Titel "Hörer des Wortes" in Buchform erschienen. Ein junger Dozent hat damals mit den Hörern die Gedanken Karl Rahners noch einmal durchreflektiert: Franz König, der spätere Erzbischof von Wien, der ihn 1962 als seinen persönlichen Berater mit aufs Zweite Vatikanische Konzil (1962 - 1965) nehmen sollte.
Mitten während der Sommerferien, im Juli 1938, hoben die Nationalsozialisten die Theologische Fakultät in Innsbruck auf. Im Oktober 1939 besetzten Gestapo und SS das Jesuitenkolleg. Alle Jesuiten erhielten "Gauverbot". So kam Karl Rahner nach Wien: um im Geheimen Vorlesungen für junge Jesuiten zu halten und im Seelsorge-Institut unter Prälat Karl Rudolf mitzuarbeiten, zu dessen engsten Mitarbeitern er schnell zählte. Kardinal Theodor Innitzer nannte den inneren Zirkel um den Prälaten seinen "Generalstab". Von einer Sommer-Aushilfe kehrte Karl Rahner im Herbst 1944 wegen der näherrückenden Front nicht mehr nach Wien zurück, sondern blieb fast ein ganzes Jahr in der Pfarrseelsorge in Niederbayern.
Nach dem Zweiten Weltkrieg dozierte Karl Rahner zunächst in Pullach Dogmatik, kam im August 1948 nach Innsbruck zurück und wurde 1949 zum ordentlichen Professor ernannt. Die Tiroler Landeshauptstadt wurde zu seiner "theologischen Werkstatt". Er hielt Vorlesungen und Seminare, er predigte regelmäßig und gab Exerzitien, er war ein gefragter Vortragsredner - und er veröffentlichte zahlreiche Beiträge: 1954 erschien der erste Band seiner "Schriften zur Theologie", von denen damals noch nicht absehbar war, dass sie es bis 1984 auf 16 Bände bringen sollten. 1957 begann er zusammen mit Josef Höfer mit der Herausgabe der zweiten, völlig neubearbeiteten Auflage des "Lexikons für Theologie und Kirche", 1958 begründete er zusammen mit Heinrich Schlier die Reihe "Quaestiones disputatae". Seine "Beiträge zur Pastoraltheologie" kamen 1959 unter dem Titel "Sendung und Gnade" heraus. Als Bearbeiter des "Neuner-Roos" ab der zweiten Auflage 1948 (61961) und des "Denzinger" ab der 28. Auflage 1952 (311957) wurde er weit über den deutschen Sprachraum hinaus international bekannt.
Anfang der 60er Jahre hatte Karl Rahner "einen so guten Namen, daß seine Mitarbeit [beim Konzil, A.B.] von vielen als Selbstverständlichkeit erwartet wurde" (Herbert Vorgrimler). In Rom freilich galt er bei manchen Vertretern der Kurie als "fortschrittlicher" Theologe. Es klingt heute wie ein Treppenwitz der Geschichte, dass Karl Rahner - seit März 1961 päpstlich (!) ernannter Konsultor einer Vorbereitungskommission des Konzils und seit geraumer Zeit Gutachter für Kardinal Franz König - wenige Monate vor Konzilsbeginn noch unter römische "Vorzensur" gestellt wurde, die vom Heiligen Offizium, der Vorgängerinstitution der heutigen Kongregation für die Glaubenslehre ausging. Der "engagierte Kämpfer" sollte durch ein Schreibverbot "disqualifiziert und in gewisser Weise ausgeschaltet werden" (Karl Lehmann). Willkommener Anlass für diese Maßnahme scheint sein Vortrag "Löscht den Geist nicht aus!" auf dem Österreichischen Katholikentag am 1. Juni 1962 in Salzburg gewesen zu sein. Die Mitglieder der Paulusgesellschaft machten sich für Karl Rahner stark und starteten eine Unterschriftenaktion. Die Kardinäle Franz König und Julius Döpfner, Erzbischöfe von Wien sowie von München und Freising, die sich beide um den Jesuiten als persönlichen Berater bemüht hatten, traten für ihn ein. Sogar ein Minister aus dem Kabinett Adenauer intervenierte. Im Sommer 1962 distanzierte sich dann Papst Johannes XXIII. vom Vorgehen Kardinal Alfredo Ottavianis. Dass Rahner vor diesem Hintergrund die Anfrage von Kardinal Franz König, ihn aufs Konzil zu begleiten, nur zögerlich aufnahm, mag von daher verständlich sein. Es bedurfte einiger Überredungskunst.
1964 folgte Karl Rahner einem Ruf auf den Lehrstuhl für Religionsphilosophie und christliche Weltanschauung ("Romano-Guardini-Lehrstuhl") nach München und baute ein neues Institut auf. 1967, mit 63 Jahren, wurde er an die Universität Münster berufen. 1971 wurde er emeritiert. Die Würzburger Synode (1971 - 1975) sah in Karl Rahner einen engagierten, leidenschaftlichen Theologen ("Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance"). Er arbeitete bis zur Erschöpfung. Bis 1981 blieb Karl Rahner in München wohnen und übersiedelte dann nach Innsbruck.
Karl Rahners Bibliographie umfasst über 4000 Nummern - Mehrfachauflagen und Übersetzungen mit eingerechnet. Zu sehr vielen Themen hat er Stellung genommen. Er hat sich nicht im elfenbeinernen Turm der Wissenschaft versteckt. Obwohl zum "theologischen Olymp" gehörend, war er sich nie zu schade zur Seelsorge. Aus dem Geist der ignatianischen Exerzitien schöpfend, ließ sich Karl Rahner in Anspruch nehmen. Er verzichtete darauf, ein geschlossenes dogmatisches Lehrgebäude zu errichten. Es waren Anlässe, die seine Theologie bestimmten. Manche sprachen deswegen abschätzig von "Anlasstheologie". Vieles, was heute Allgemeingut in der Theologie ist, geht auf Karl Rahner zurück, und viele wissen das gar nicht.
International vielfach geehrt und ausgezeichnet, weltweit gelesen und weitergedacht, bleibt das Lebenswerk Karl Rahners auch für kommende Theologengenerationen wegweisend. "Ich habe kein Leben geführt; ich habe gearbeitet, geschrieben, doziert, meine Pflicht zu tun, mein Brot zu verdienen gesucht. Ich habe in dieser üblichen Banalität versucht, Gott zu dienen, fertig." - Redet so ein "Startheologe", der einzig auf seine Wirkung, auf "Image" und "Quoten" bedacht ist? Karl Rahner wollte in erster Linie der Pater Karl Rahner sein. Als Professor war er Confessor: Das Ordenskürzel SJ hinter seinem Namen bedeutete ihm mehr als eine biographische Fußnote. Die Exerzitien hatten ihn zum "Sozius Jesu" gemacht. Was Wunder, dass der gemeinhin als "schwierig" zu lesen geltende Theologe nach wie vor zu den geistlichen Best- und Longsellern zählt. "Von der Not und dem Segen des Gebetes", ursprünglich Fastenpredigten im Jahr 1946 im zerbombten München, sind ebenso wie die "Worte ins Schweigen" von 1938 unzähligen Menschen zur Glaubens- und zur Lebenshilfe geworden. Seine "frommen" Bücher waren ihm ebenso wichtig "wie die sich theologischen gebenden Arbeiten".
Wer Karl Rahner nicht mehr aus eigener Erfahrung erlebt hat, wer ihn nur über Texte kennen lernen kann, tut sich in manchem schwerer als seine Zeitgenossen: weil Hintergründe fehlen und Verständnishorizonte (oft unglaublich mühsam) erst erschlossen werden müssen. Doch die Generation der Enkel muss andererseits nicht aus dem Schatten des großen Meisters treten, was gelegentlich auch sehr ungeschickt erfolgt ist, weil einige meinten, ihr eigenes Profil nur durch aggressive Absetzung von ihm zeichnen zu können. Sechs Wochen vor seinem Tod sagte Karl Rahner in seiner eindrucksvollen Rede "Erfahrungen eines katholischen Theologen": "80 Jahre sind eine lange Zeit. Für jeden Augenblick aber ist die Lebenszeit, die ihm zugemessen ist, der kurze Augenblick, in dem wird, was sein soll." Pater Karl Rahner SJ hat viel geleistet und viel geschenkt. Wir zehren noch lange davon.
Andreas R. Batlogg SJ